Lernforum
  Klausur zum Thema aspektorientierte Gesprächsanalyse
 
Friedrich Schiller: Don Carlos

Aspektorientierte Gesprächsanalyse: V, 10 (Großinquisitorszene) im Hinblick auf die Isolation des absoluten Herrschers und den Vater-Sohn-Konflikt zwischen König Philipp und Don Carlos.  

 

Bei dem vorliegenden Textauszug handelt es sich um einen Auftritt aus Friedrich Schillers dramatischem Gedicht „Don Carlos“ aus dem Jahre 1787, das den familiär-tragischen Aspekt des spanischen Kronprinzen Carlos und dessen Liebe zu seiner Stiefmutter einerseits zur Handlung hat, andererseits aber auch den politischen Konflikt des gemeinsamen Freiheitspathos’ des Prinzen mit dem Marquis von Posa für Aufklärung und Freiheit der besetzten Niederlande thematisiert.

 

Im Hinblick auf die Gesprächsanalyse soll nun die Großinquisitorszene des V. Aktes genauer untersucht werden: Dem 10. Auftritt gingen unmittelbar Posas Verrat gegenüber dem König und die darauf folgende Ermordung durch eben diesen voraus; Philipp traf der Verrat seines einst engsten Vertrauten, noch mehr aber die Schmach, die ihm sein Sohn Carlos offen legt, nämlich über den gesamten Zeitraum hin nur Posas Mittel zum Zwecke der Verwirklichung seiner Freiheitsideale gewesen zu sein. – Von dieser Kränkung gedemütigt sucht er in innerer Zerrissenheit und Verzweiflung den Rat bei seinem ehemaligen Lehrmeister, dem Kardinal Großinquisitor, einem blinden Greis, der schon Philipps Vater unterrichtete.

   Gewissermaßen bildet diese vorletzte Szene des Stückes den Auftakt zur finalen Katastrophe am Ende.

 

Dies ist der Anlass dieser vertrauten Unterredung der beiden Größen:

Direkt zu Beginn des Auftritts wird das Machtverhältnis zwischen den beiden eindeutig, das sich im Wesentlichen über die gesamte Szene hin auch nicht nennenswert ändert: König Philipp sucht als ratloser Schüler die Hilfe des frühen Lehrers, dem Kardinal (V. 5145-5147). Diese Einstellung beider Seiten wird insbesondere deutlich durch das unterschiedliche Gesprächsverhalten:

   Gleich in der Exposition wird die Enttäuschung des Inquisitors über seinen Zögling Philipp sichtbar; der über alles bereits informierte und scheinbar allwissende Kleriker spielt die Person  Philipps auf sarkastische Weise herunter (V. 5144), mehr noch, er zieht Bilanz zwischen dem Monarchen und dessen Vater Karl, der „[der niemals des Rates]“ von ihm bedurfte (V. 5148). – Philipp jedoch bedarf seiner und so ließe sich anfangs des aspektorientierten Verfahrens folgende These formulieren: König Philipp scheiterte (im Gegensatz zum Vater) an seiner Isolation; das Menschliche im Despoten gewann die Überhand – dies gibt er nun endgültig auf zugunsten des Monarchenseins!

 

   Die Ausgangssituation:

Der König hat gemordet! „Eine Leidenschaft riss [ihn] dahin“ (V. 5187). Dies lässt ihm keine Ruhe, dafür wünscht er Vergebung (vermutlich nicht zuletzt auch auf Grund seiner tiefen Religiosität).

   Der Gegenpol:

Philipp ist Herrscher eines Weltreiches, als uneingeschränkter Absolut werden ihm unbedingtes Gehorsam und Vergöttlichung zu Teil; diese Machtstellung fordert dafür das Menschliche und isoliert völlig.

Für den Großinquisitor ist dies eine Selbstverständlichkeit: Philipps Argumentation der Leidenschaft zum Mord ist für ihn unzulässig; er tadelt des Königs Taten und stempelt sie als jugendliche Schwärmerei ab, die im Manne nichts zu suchen habe (V. 5189 ff.). Er erinnert an die vorangegangen Jahre Philipps Regentschaft, in denen er praktisch gemäß des Kantschen Prinzips stets pflichtbewusst und niemals nach Trieben handelte (V. 5194 – 5204).

   Die Läuterung des Kardinals mündet in eine rhetorische Fragestellung (V. 5205-5208): Wofür die Vorsätze, Prämissen, Maxime und Ideale (und natürlich auch die Erziehung), wenn er (der König) sich in einem einzigen Moment der Schwäche zum Menschensein und Fühlen entschließe?

   Augenblicklich realisiert Philipp wieder seine eigentliche Stellung und tituliert seine Tat sogar als Rückfall vom Despoten zum Sterblichen (V. 5210), vom Übermenschen zum Gefühlsmenschen.

   Dennoch scheint der König noch nicht völlig überzeugt, da ihm letzte Erklärungen für seinen Mord bleiben (V. 5209-5212). – Auf die Frage des Inquisitors jedoch, wie Philipp Posas Schwärmen von Neuerung glauben schenken und einvernommen werden konnte (V. 5214-5223), wird Folgendes erkennbar: „[Es] lüstete [ihn] nach einem Menschen“ (V. 5224); es ging ihm um den Menschen Posa, der ihm ins Herz blickte und seine Seele berührte (III, 10) und der er  niemals sein darf; der sich abgrenzte von den Intrigen Albas und Domingos und der nicht der Angst vor dem Tyrannen wie die restliche Welt verfallen war. Die Ideen Posas verurteilt(e) er (V. 5220-5223), doch das Humane an ihm begann er zu lieben.

 

Genau dies aber ist nach Meinung des Kardinals sein Fehltreten gewesen: „Monarchenkunst“ beinhalte den Menschen nur insofern als Zahl und „weiter nichts“ (V. 5225-5228). Philipp ist Herrscher von Gottesgnadentum – dies gestehe ihm unzählige Rechte zu, aber auch Pflichten – und Emotionalität obliegt ihm nicht (V. 5225-5234).

   Nun wird Philipp endgültig seiner Schwächen gewahr und gibt zu, nur „ein kleiner Mensch zu sein“, der dieser Bürde nicht mächtig ist (V. 2537-5238).

   Hier jedoch erfährt die Dynamik des Gespräches ihren Wendepunkt:

Der Großinquisitor akzentuiert ganz entschieden, dass die Inquisition die eigentliche Machtinstanz in Philipps Reich ist, der Philipp durch die nicht vollzogene Sublimierung seiner Gefühle entfliehen wollte (V. 5238).

   Zweimal machte sich Philipp des Verrates an dieser Institution strafbar: Zunächst wird ihm die Geheimhaltung Posas vorgeworfen, dessen aufklärerische Ideale er „dem heil’gen Amt [unterschlug]“ (V. 5167-5168)  (unwissend, dass man wohl bereits von den Machenschaften des Marquis’ informiert war) und schließlich dann auch noch seine Selbstjustiz in Form der Ermordung Posas, der für die Hinrichtung durch die Inquisition zur Abschreckung der Außenwelt schon seit Jahren verplant war (V. 5155-5157, 5180).

   Der Kardinal Großinquisitor klagt Philipp direkt dieser Vergehen an und nennt ihn sogar selbst indirekt einen Ketzer (V. 5246-5247), der nur durch die komplette Hingabe seiner Persönlichkeit an die Inquisition und seine Rückkehr vom Gefühlsmenschen zum steinernen Monarchen Vergebung erfahren könne (V. 5241-5244, 5261-5262).

   In diesem Angesicht sieht der Inquisitor sein Werk scheitern. Als eigentliches Gegenstück zur Person Posas verkörpert er Konservatismus, Tradition und Fundamentalismus der damaligen Christenwelt. Diese Werte vermittelte er Philipp in dessen Jugend und er sieht nun, wie der einst größte Vorkämpfer katholischer Universalmonarchie nun „[sein] Gebäude [erschüttert]“ (V. 5250-5255). Sein Lebenswerk scheint umsonst. Nur ein Schritt kann dies verhindern: Philipps endgültige Isolation seiner absoluten selbst.

 

Dieser Prozess knüpft unmittelbar an den Aspekt des Vater-Sohn-Konflikts an. Mit der Übergabe Carlos’ an die Inquisition legt Philipp automatisch auch seine letzten menschlichen Züge ab, was zur Aussöhnung mit der Kirche von Notwendigkeit zu sein scheint.

   Obwohl der Vorschlag von Carlos’ Tötung auf seine Initiative hin erfolgte, plagen Philipp Zweifel. Ihn belasten Gewissensbisse, inwiefern der Sohnesmord letztendlich zu rechtfertigen sei und ob dies im Einklang mit dem Glauben stünde (V. 5268).

   Der Großinquisitor jedoch nivelliert die Befürchtungen des Königs und argumentiert sogar theologisch: Auch Gott habe seinen einzigen Sohn zum Zwecke eines höheren Zieles geopfert (V. 5269). – Auch das familiäre Bündnis zwischen Vater und Sohn sei nicht weiter von Bedeutung, wenn es vor dem Glauben stehe (V. 5274).

   Mit dieser Äußerung mündet das Stück endgültig von der Familientragödie ins politische Drama. „Die Stimme der Natur“ (V. 5274) ist nunmehr irrelevant für das große Ziel: Und dieses Ziel sei es nicht gewesen, das Errungene, Erbaute und Erschaffene zu bewahren, sondern den Fortschritt zu verhindern (V. 5277-5278)!

   Dieses Ziel nimmt dann schließlich auch der Potentat für sich an und gibt seinen Sohn als Opfergabe für den Thron Spaniens.

 

Hier nun geschieht der endgültige Bruch zwischen Vater und Sohn. Schon unlängst hat Philipp seinen Argwohn gegenüber den Prinzen in nüchterne Neutralität und Gleichgültigkeit gewandelt. Spätestens seit der Gefängnisszene ist das Verhältnis von König und Carlos ein rein politisches. Carl proklamierte schon im Vorfeld, Philipp nur noch als König und Gebieter anzusehen und dieser tut es ihm in vorliegender Szene gleich: Seine Seelenkälte erreicht den Höhepunkt, Carlos wird vom Sohn zu einem von Vielen. Philipp befolgt so gewissermaßen den Rat des Kardinals und macht seinen Sohn vom Menschen zur Zahl.

 

Abschließend bleibt zu sagen, dass dieser 10. Auftritt entscheidend ist für die Entwicklung Philipps Charakters. Die Metamorphose des Regenten vom Menschen zur Marionette der Inquisition wird hier Schritt für Schritt prozessiert. Der Zuschauer erlebt sozusagen Philipps Hinwendung zur Unmenschlichkeit unter Regie des manipulierenden Kardinals. Am Ende des Dramas wird er der einzig Unberührte bleiben, von aller Emotionalität und Sensibilität befreit, der innerhalb des Reiches dieselbe Funktion wieder aufnehmen wird, die er früher innehatte. Überzeugt von der Richtigkeit seiner Auslieferung hat er nunmehr Absolution erfahren und wird weiterhin als „düsterer Herrscher“ im Sinne der Orthodoxie fungieren. Die Friedensideale Posas, Carlos’ (und auch Elisabeths) sind mit der Hinrichtung des Infanten gescheitert.

   Nach eigenen Angaben des Marquis’ schien dieses Zeitalter noch nicht reif genug (V. 3079).

   Allem Pathos zum Trotz sind die alten Machtverhältnisse wie zu Beginn wiederhergestellt, sodass von politisch-historischem Standpunkt aus gesehen Posas und Carlos’ Einsatz für Humanismus, Freiheit und Egalität meiner Ansicht nach sowohl für den Autisten Philipp als auch für das Jahrhundert nicht von Bedeutung war.

   Literarisch betrachtet jedoch vermute ich, dass Schillers Werk Spiegel des damaligen Zeitgeistes ist und für die Zukunft von Epoche und Bürger Gedankenimpuls und Sprachrohr zugleich war.

 


von Frank Stein
 
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